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Bildungssystem in Deutschland: Soziale Selektion?

Bildungssystem in Deutschland: Soziale Selektion? 2006-10-22 04:50
Anarch
Dies ist eine Fortführung der Diskussion von anderer Stelle.

Und wenn man das Problem angehen will, dann heulen wieder alle, weil man die armen, armen Hochbegabten mit den Dummen zusammensteckt, was ja die armen, armen Hochbegabten so in ihrer Entwicklung behindert.
Ich will gewiss nichts gegen Förderung schwächerer Kinder sagen. Aber das Argument ist vollkommen richtig.

Das Argument hat als Prämisse, dass es schlecht für ein „intelligentes“ Kind ist, zusammen mit „dummen“ Kindern größere Teile des Aufwachsens zu verbringen. Das halte ich für eine Fehlannahme, da gerade die Fähigkeit mit anders veranlagten Mitmenschen umzugehen enorm wichtig ist, auch für die vermeintliche Elite. (Ganz davon abgesehen, dass ich es komisch finde Kinder in „dumm“ und „schlau“ einzuteilen – einigen fällt dieses leichter, anderen jenes. Nur weil man im Gymnasium keine Handwerkskurse hat, glauben diese Elitaristen ja immer, dass sie alles besser können.)

Für die Begabten ist eine Unterforderung eine große Belastung.

Für jeden ist Unterforderung und Überforderung eine große Belastung. Wann du unter- oder überfordert wirst, hängt nicht primär von deiner Prädisposition zum Lernen allgemein ab, sondern vielmehr von deiner aktuellen Stimmung, deinem Umfeld, und dem Thema. Hier eine so frühzeitige Selektion durchzuführen und anschließend so stark zu separieren halte ich für einen der größten Fehler überhaupt.

Glück für die, die das nicht nachvollziehen können, denn sie haben es nicht erlebt!

Was mir ja auch etwas übel aufstößt ist diese Selbstbemitleidung, die einige Hochbegabte so haben. Ihnen geht es ja so schlecht! Und keiner kann das nachvollziehen! Aber wie scheiße es einigen geht, die einfach mal als „weniger begabt“ abgestempelt wurden und ein Leben lang so behandelt werden, das wird gerne ignoriert. Kann ja auch keiner nachvollziehen, und die haben es nie gelernt sich eloquent auszudrücken.

Was anderes wäre natürlich ein prinzipiell anderes Schulsystem. Aber das sprengt hier wohl den Rahmen.

Daher hier ein neuer Rahmen.

Eine sehr schöne Abhandlung über die Entwicklung unseres Schulsystems (anhand des amerikanischen, das auf unserem aufbaut und damit ähnliche Wurzeln hat) gibt Gatto, The Underground History of American Education, insbesondere, wenn man intelligente Polemik mag sehr schön zu lesen.

Mein Lieblingsbuch zu dem Thema ist Llewellyn, Guerilla Education: How to give your kids a real education, with or without school. Insbesondere für Jugendliche, die sich selbst bilden wollen, kann ich ihren Klassiker empfehlen, Llewellyn, The Teenage Liberation Handbook.

Weitere Bücher finden sich hier und eine schöne Übersich über libertäre Erziehung hier.

Wie sehen eure Vorstellungen aus, was sich dringend ändern müsste?

Re: Bildungssystem in Deutschland: Soziale Selektion? 2006-10-22 06:15
Anarch
Wo ich gerade drüber gestolpert bin: „Nicht treten!“, ein Artikel über die neue Härte in der Erziehung. Sehr schöne Punkte.

http://www.heise.de/tp/r4/artikel/23/23808/1.html


Re: Bildungssystem in Deutschland: Soziale Selektion? 2006-10-22 19:39
f0k
Und wenn man das Problem angehen will, dann heulen wieder alle, weil man die armen, armen Hochbegabten mit den Dummen zusammensteckt, was ja die armen, armen Hochbegabten so in ihrer Entwicklung behindert.
Ich will gewiss nichts gegen Förderung schwächerer Kinder sagen. Aber das Argument ist vollkommen richtig.

Das Argument hat als Prämisse, dass es schlecht für ein „intelligentes" Kind ist, zusammen mit „dummen" Kindern größere Teile des Aufwachsens zu verbringen. Das halte ich für eine Fehlannahme, da gerade die Fähigkeit mit anders veranlagten Mitmenschen umzugehen enorm wichtig ist, auch für die vermeintliche Elite.

ACK. Das muss auch nicht zu einer Unterforderung der "Denkernaturen" (wir brauchen mal irgendwelche politisch korrekten Begriffe, mir fällt nix ein) führen - im Gegenteil könnte man sie dadurch fordern, dass sie mit den "Handwerkernaturen" zusammen unterrichtet werden, Aufgaben lösen etc. und dabei etwas die Rolle eines Lehrers einnehmen. Die meisten sind ja stolz, wenn sie etwas wissen und es jemand anderem erklären können.
Irgendwo wird sogar etwas in der Art durchgeführt (hab vergessen, welches Land) - ich glaube, dort werden teilweise verschiedene Klassenstufen gemeinsam unterrichtet, so dass die Jüngeren von den Älteren profitieren.

Ich glaube aber nicht, dass man ganz ohne Trennung auskommt, irgendwann wird eine Aufspaltung in mehrere Zweige nötig sein - oder eine Abspaltung derjenigen, die in eine Berufsausbildung wechseln möchten von denen, die ein Studium anstreben und darum länger zur Schule gehen. Die Frage ist, wann. [img]http://www.fb18.de/gfx/3.gif[/img]

Re: Bildungssystem in Deutschland: Soziale Selektion? 2006-10-23 23:55
Anarch
ACK. Das muss auch nicht zu einer Unterforderung der "Denkernaturen" (wir brauchen mal irgendwelche politisch korrekten Begriffe, mir fällt nix ein) führen

Mir gefällt „Denkernatur“ und „Handwerkernatur“ schon ganz gut, wenn man sich bewusst ist, dass es sich dabei um eine übertriebene schematische Einteilung handelt, bzw. zwei Extreme bezeichnet, die es selten in dieser Form gibt.

im Gegenteil könnte man sie dadurch fordern, dass sie mit den "Handwerkernaturen" zusammen unterrichtet werden, Aufgaben lösen etc. und dabei etwas die Rolle eines Lehrers einnehmen.

Lehrer wie auch Lerner. Die „Handwerkernaturen“ denken ja nicht weniger, sondern anders. Die Fähigkeit, dies zu verstehen, nachzuvollziehen, und auch etwas über „Handwerk“ zu lernen, halte ich für sehr wichtig.

Irgendwo wird sogar etwas in der Art durchgeführt (hab vergessen, welches Land) - ich glaube, dort werden teilweise verschiedene Klassenstufen gemeinsam unterrichtet, so dass die Jüngeren von den Älteren profitieren.

Gibt es auch in Deutschland. Ein schöner Schritt, aber eingebettet in das aktuelle Schulsystem hilft es wenig – die Schüler stehen immernoch im Konkurrenzdruck, besser zu sein als der Durchschnitt, schnell zu lernen, früher fertig zu sein. Die Schüler werden immernoch selektiert.

Ich glaube aber nicht, dass man ganz ohne Trennung auskommt, irgendwann wird eine Aufspaltung in mehrere Zweige nötig sein - oder eine Abspaltung derjenigen, die in eine Berufsausbildung wechseln möchten von denen, die ein Studium anstreben und darum länger zur Schule gehen. Die Frage ist, wann. [img]http://www.fb18.de/gfx/3.gif[/img]

Die Frage ist nicht, wann man die Lernenden „aufspaltet“, sondern zu welchem Zweck. Ich unterhalte mich selten mit dem Chemiker hier über Softwaredesignprobleme. Hier findet sozusagen eine „Aufspaltung“ statt. Aber ich unterhalte mich mit ihm über vieles andere. Eine „Aufspaltung“ kann durchaus themenbezogen sein, und muss nicht so grundlegend stattfinden, wie es zur Zeit geschieht.


Das grundlegende Problem an der aktuellen Bildung ist, dass sie kontextfrei stattfindet. Kontextfrei heißt hier, dass sie praktisch abgeschottet vom Leben der Jugendlichen geschieht. Sie verlassen ihr „normales“ Leben beim Eintritt durch das Schultor, und kehren dorthin zurück, wenn sie das Schultor wieder durchqueren. Ihre Interessen, ihre aktuellen Probleme, und ihre Wünsche aus dem realen Leben haben in der Schule kaum Platz. Hier wird ein Lehrplan vorgekaut, der dann abgearbeitet wird. Wenn der rum ist können sich die Jugendlichen wieder mit ihren anderen Problemen beschäftigen. Und irgendwann sind sie dann fertig mit der Schule und dürfen sich mit den Problemen, von denen sie mal theoretisch gehört haben, manchmal auch beschäftigen.

Es wäre dahingegen wesentlich sinnvoller, wenn man Jugendliche langsam mit den Problemen wirklich konfrontiert, und sie dann selbständig sehen, wo sie Problemlösungen benötigen. Nur als Beispiel lernen Jugendliche, die eigenständig einkaufen können, wesentlich schneller und früher einfaches Rechnen als Jugendliche, die das rein in der Schule lernen, ohne dafür eine wirkliche Anwendung zu haben.

Aus dieser Sicht würde ich „Schule“ in der heutigen Form abschaffen und durch Möglichkeiten ersetzen, in denen man lernen kann, (größtenteils) uneingeschränkt vom Alter. Dort sollte auch ein Angebot bestehen, bei dem man erfahren kann, was man für bestimmte Probleme als Vorwissen benötigt. Auf diese Weise können Jugendliche ihre Interessen ausleben, aber auch sehen, was für Wissen häufig benötigt wird.

Funktionieren kann dies natürlich nur, wenn die Rahmenbedingungen keine Zeitvorgaben stellen, so dass es eher irrelevant ist, ob ein Kind mit 5 oder 8 lernt zu schreiben, oder mit 13 oder 16 lernt, wie man mit Brüchen rechnet. Auch dies ist aktuell einfach nicht gegeben. In der aktuellen Welt bedarf es einer Bildungsfabrik, in die ungebildete Menschen eingeworfen werden, um dann am anderen Ende als Abiturienten (etc.) ausgeworfen zu werden. Solange man sich nicht von dieser Grundannahme trennt, wird man auch kaum andere Formen der Schule für möglich halten.